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Meike

 

Ich habe Meike nie kennengelernt. Sie wurde im Sommer 1981 ermordet. Da war sie sieben oder acht Jahre alt. Genau weiß ich das nicht mehr, denn auf ihrem Grabstein stehen nur die Jahreszahlen, keine genauen Daten.

 

Meike war ein Mädchen aus der Klasse meiner Schwester. Wir gingen damals auf die gleiche Schule, zumindest noch. Ich würde nach den Ferien in die Fünf wechseln, und für Michaela waren es die ersten Sommerferien. Natürlich hatte ich das Jahr über auf dem Schulhof mit meiner kleinen Schwester nicht allzu viel zu schaffen, wie große Brüder halt so sind. Darum habe ich Meike zwar bestimmt mal gesehen, in den Pausen oder beim Adventsingen, aber kennen  gelernt habe ich sie nie.

 

Ich weiß nicht mehr, ob meine Familie im Sommer 1981 im Urlaub war. Wenn ja, dann waren wir, wie damals bei uns üblich, im bayrischen Unterallgäu, untergekommen bei Bekannten meines Vaters. Vielleicht war es aber auch ein Sommer zu Hause. In dem Fall waren das dann sechs Wochen mit Benny und Anke im Ferienprogramm für Kinder, und vielleicht ein paar Nachmittage hinten im Park bei der Halde. 1981 war der Sommer mit dem Ententanz im Radio. Es war ein Sommer ohne Welt- oder Europameisterschaft. Ein Sommer, bei dem man in der Wikipedia nachlesen muss, was eigentlich in der Welt so passiert ist. Dann liest man über Ereignisse, schaut sich die Bilder an und weiß absolut von nichts. Woran ich mich jedoch erinnern kann ist Meike. Ich erinnere mich an den Tod eines Mädchens, das ich nie kennen gelernt habe.

 

Meike war im Sommer 1981 mit ihrer Familie im Urlaub, irgendwo in Deutschland auf einem Bauernhof. Zwei Wochen Reiterferien, oder drei. Am Abreisetag, die Koffer waren bereits im Fahrzeug verstaut, wollte sich Meike noch schnell von den Pferden verabschieden. Sie lief also in den Stall, aus dem sie nie mehr zurückkehren sollte. Nachdem ihre Eltern eine lange Zeit am Auto gewartet hatten, machten sie sich schließlich auf die Suche. Sie fanden ihre Tochter erdrosselt zwischen Strohballen und Heu. Der Täter stellte sich nach kurzer Flucht noch am gleichen Tag den Behörden; Meikes Eltern jedoch kehrten ohne ihr Kind aus dem Urlaub zurück. Am ersten Schultag dann erfuhr die ganze Schule, und damit auch meine Familie und ich, was Furchtbares passiert war. Von da an war ein Mädchen, das ich nie kennen gelernt hatte, ein Teil meines Lebens.

 

Ich weiß natürlich nicht, ob mein Leben anders verlaufen wäre, hätten wir uns kennen gelernt. Ich habe über die Jahre immer mal wieder mit Freundinnen und Freunden meiner Schwester Bekanntschaft gemacht, und aus keiner dieser Begegnungen hat sich je eine Freundschaft oder mehr entwickelt. Anders herum gilt das übrigens nicht: Mein bester Kumpel hat meine Schwester damals praktisch vom Fleck weg geheiratet und zwei Kinder mit ihr gezeugt. So gesehen, wer kann schon sagen, was gewesen wäre, wenn. Doch eben weil es diese eine Bekanntschaft nie gab, hat Meike etwas in mir für immer verändert.

 

Im Sommer 1981 lag ich oft wach und stellte mir immer wieder die letzten Sekunden in Meikes Leben vor. Allem voran stellte ich mir Meikes Angst vor. Ich stellte mir vor, wie es wohl sein muss, wenn das kindliche Vertrauen, diese Selbstverständlichkeit im Erleben von Sicherheit, auch und besonders in der Nähe anderer Menschen, zusammenbricht, auseinanderfällt, in das genaue Gegenteil implodiert. Ich denke, dass mir in jenem Sommer klar wurde, dass ich Menschen bislang gefährlich falsch eingeschätzt hatte. Dass es Mörder und Verbrecher eben nicht nur in Aktenzeichen XY oder in Grimms Märchen gab. Dass der Schrecken, den diese Menschen verbreiten, nicht etwa ein Fernsehgrusel am Freitagabend ist, sondern ein harter, realer Fakt, so hart, dass Seelen an ihm zerschellen und Kinder an ihm sterben. Wäre es nämlich anders, hätten Meike und ich uns tatsächlich kennen lernen können.  Ich habe da gar keine Wahl - Die Wahrheit ist, dass ich auch heute noch immer wieder wach liege und mir die letzten Sekunden in Meikes Leben vorstelle. Aber ja, fällt mir ein, es wäre möglich gewesen: Wir hätten tatsächlich Freunde werden können. Und dann vermisse ich Meike.

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Lennie Wolf, 2019

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