Mamas Pistole
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In der Küche stand ein Herd, den Mama nie benutzte. Über diesem Herd, ich glaube, er war nicht einmal richtig installiert, hing ein Schrank. In diesem Schrank lag Mamas Pistole. Es gab keine Teller in diesem Schrank. Es gab ein paar Tassen und ein paar Gläser. Eines davon war ein großes Rührglas, so eines, in denen Bartender Martinis rühren. Es stand neben Mamas Pistole und war randvoll mit losen Tabletten, Kapseln und Pillen in allen Farben und Größen. Herausgedrückt aus ihren Blisterpackungen oder aus ihren Dosen in das Glas geschüttet und von Zeit und Zufall ordentlich vermengt. Kunterbunt. Niemand, auch Mama nicht, hatte eine Ahnung, was für oder wessen Tabletten das mal waren. Eigentlich hat sich das auch nie jemand gefragt. So lag Mamas Pistole im Küchenschrank neben dem Tablettenglas. Und das Glas mit den Tabletten stand neben Mamas Pistole.
Besagte Schusswaffe war eine Gaspistole. Mama hat immer erzählt, dass mein Onkel an dieser Pistole irgendwas gebohrt hatte und dass es darum nun eine „echte“, gefährliche Waffe sei. Mag sein, mag nicht so sein. Ich habe keine Bohrungen oder Ähnliches gesehen, aber ich kannte mich mit Waffen ja auch nicht aus. Für mich war Mamas Pistole sowieso immer eine echte Waffe gewesen. Manchmal, wenn ich nachts allein in der Wohnung war (das war ich oft) und nicht schlafen konnte (das konnte ich selten), dachte ich an Mamas Pistole im Schrank. Dann ging ich in die Küche. Auf dem Tisch fand ich stets zwei Dinge: Eine Flasche Mineralwasser und eine Riesentafel Milka. Dann trank ich aus der grünen Flasche und aß von der Schokolade. Dabei schaute ich mir jenes Stillleben im Küchenschrank an. Manchmal nahm ich die Pistole in die Hand. Wie schwer die war. Das Glas mit den Tabletten habe ich aber nie angefasst. Ich glaube jetzt, unter dem Schrank mit Mamas Pistole war in Wirklichkeit eine Anrichte, und der Herd stand an der Wand gegenüber. Aber das ist vermutlich auch egal.
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Das Glas mit den Tabletten war für das Kind in der Küche der Inbegriff der Gefahr. Tabletten bedeuteten Krankheit. Tabletten bedeuteten Schmerzen. Tabletten bedeuteten immer, dass etwas Wichtiges nicht in Ordnung war. Das Kind in der Küche hatte Angst vor dem Glas mit den Tabletten. Es achtete immer darauf, das Glas nicht zu berühren. Oder sich schnell die Hände zu waschen, wenn es doch mal passierte.
Mamas Pistole war für das Kind in der Küche der Inbegriff der Sicherheit. Würde jemand reinkommen, ein Verbrecher, würde das Kind ihn mit der Pistole erschießen, oder zumindest doch erschrecken. Für ein Kind, das nachts allein in einer großen Wohnung nicht schlafen kann, ist das Gewicht einer Mama-Pistole in der Hand etwas wirklich Beruhigendes. Nichts anderes auf der Welt fühlte sich so an wie Mamas Pistole. Der raue Griff. Der kalte, schwarze Lauf. Nichts anderes auf der Welt roch so eigenartig nach Metall und Öl.
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Ich trug Mamas Pistole oft bei mir. Natürlich nicht in echt, mir war schon klar, dass es eine schlechte Idee gewesen wäre, als eher unscheinbares Kind mit einer Schusswaffe in der Tasche rumzulaufen. Ich trug Mamas Pistole mehr als eine Art innerer Haltung mit mir herum. Ich hatte manchmal ein „Meine-Mama-hat-eine-Pistole-im-Küchenschrank“-Gefühl, und dieses Gefühl verlieh mir eine gewisse Unverwundbarkeit. Es war, als hätte ich ein Ass im Ärmel, einen heimlichen Vorteil, denn ich war mir ziemlich sicher: Andere Kinder hatten genauso ein Gefühl nicht.
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Er nannte sich selbst der Klatscher. Klatscher war ein Typ aus meiner Parallelklasse und einer unserer jahrgangsbesten Schläger. Jede Stufe hatte davon einen oder zwei. Außerdem hatte jede Stufe eine Handvoll Möchtegerns, die ab und an Nunchakus, Wurfsterne oder Schlagringe mit in die Schule brachten, um die echten Schläger zu beeindrucken. Meistens klappte das für eine gewisse Zeit. Klatscher hatte sowas nicht nötig. Klein, hässlich, kräftig gebaut und mit einer aus Möchtegernsicht beeindruckend natürlichen Brutalität ausgestattet, funktionierte Klatscher durch bloße Präsenz. Klatschers natürliche Brutalität hatte eine große Schwester, nämlich seine unnatürliche Dummheit. Klatscher war unglaublich gut darin, einfache Dinge nicht zu verstehen. Zum Beispiel hat er nie wirklich verstanden, dass es einen Zusammenhang gab zwischen seinen Schlägereien auf dem Schulhof und den folgenden schulischen Ordnungsmaßnahmen. Wenn Klatscher mal wieder ein paar Tage Schulvorbot hatte (und in seiner neu gewonnenen Freizeit „fuck the teachers“ an die Turnhallenwand sprühte) war ihm nicht wirklich klar, dass diese Maßnahme eine Reaktion auf sein Verhalten war. Immer fühlte er sich ehrlich ungerecht behandelt und ließ seine Wut am Tage seiner Rückkehr an willkürlich ausgewählten Mitschülern aus.
Einer davon war ich. Nach drei oder vier Tagen Schulabstinenz erschien Klatscher während der ersten großen Pause auf dem Hof des Schulzentrums. Wir saßen auf der Kante des Springbrunnens (der damals noch funktionierte). Klatscher stiefelte cowboyschrittig an uns vorbei und scannte dabei den Schulhof nach potenziellen Opfern ab. Wir standen auf. Reihenweise glitten die Blicke meiner Kollegen zu Boden. Ich hingegen starrte Klatscher an, mit einer gewissen Faszination. Nicht die Person faszinierte mich, über die war ich mir im Klaren, sondern das Phänomen. Der vielleicht fünfte zeitweilige Schulausschluss hatte nicht das geringste bewirkt. Klatscher zeigte nicht die mindeste Verhaltensänderung. Für mich als überangepasstes Kind war das ein Rätsel: Der Stress mit den Eltern. Die Konferenzen am Nachmittag. Die immer dicker werdende Akte. Die schlechter werdenden Noten. Wer tut sich sowas an? Ich verstand das alles nicht.
Ich verstand auch nicht, dass ich gerade dabei war, eine Riesendummheit zu begehen, indem ich Klatscher anstarrte. Vielleicht war das einer dieser Momente, in der Mamas Pistole in meinem Unterbewusstsein wirkte und mir aus ihrem Küchenschrank heraus das Gefühl der Unverwundbarkeit verlieh. Klatscher spürte meinen Blick, hielt inne und wandte sich zu uns hin. Unsere Augen trafen sich.
Klug wäre gewesen, wie die anderen zu Boden zu schauen. Klug wäre gewesen, dem aufsichtsführenden Lehrer in die Arme zu fallen. Klug wäre gewesen, hinterrücks in den Brunnen zu kippen und sich triefend der Lächerlichkeit preiszugeben. Stattdessen tat ich das Folgende: Ich stand auf, formte die Rechte zur Faust und schob meine Brille mit dem Stinkefinger nach oben. Eine Geste, die ich in irgendeinem Film gesehen hatte. Dabei begann ich, breit zu grinsen. Ich wusste, ich hatte mit dieser Geste einen Algorithmus gestartet mit Klatscher als mobilem Endgerät. Ich wusste, er würde kommen. Er würde mich verdreschen. Ich wusste, es würde sich eine grölende Traube um uns bilden. Die Lehrer würden sich durch dieses Rudel kämpfen, den Klatscher ergreifen und wegziehen. Danach würden Konferenzen folgen, am Nachmittag, es würde Beschlüsse geben, einen Schulausschluss oder schlimmeres. So und nicht anders würde es passieren. Klatscher würde dieses Programm abarbeiten wie ein Bigtrak von MB. Ich begann zu lachen. Ich dachte an Mamas Pistole im Schrank. Klatschers Mama würde zwar bald einen neuen blauen Brief im Kasten haben, aber sie hatte ganz bestimmt keine Pistole im Küchenschrank. Meine Leute, die eben noch mit am Brunnenrand standen, hatten längst einen sicheren Abstand eingenommen, als Klatscher mit hochrotem Kopf zum ersten Stoß gegen meinen Brustkorb ausholte. Ich hielt mich irgendwie auf den Beinen und lachte noch lauter. Klatschers Augen weiteten sich vor Überraschung. Sein nächster Schlag war ein Boxer in meine Magengrube. Meine Bauchmuskeln, angespannt vor Lachen, schützen mich, irgendwie, weshalb der Schlag ohne Effekt blieb. Schreiend rastete Klatscher vollends aus. Er schlug auf mich ein. Er schlug und schlug. Und ich lachte, lachte, lachte. Der war so lustig, der war so …dumm!
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An das, was in den kommenden Tagen folgte, an die Befragungen und so, erinnere ich mich nicht mehr. Ich sah Klatscher nie wieder. Vielleicht wurde er diesmal der Schule verwiesen. Vielleicht bin ich ihm intuitiv aus dem Weg gegangen, aber bestimmt nicht mit Absicht. Ich hatte keinen Hass auf und keine Angst vor ihm. Auch in der Nacht, als ich mit Mamas Pistole in der Hand in der dunklen Küche stand, spielte ich nicht Klatschertotschießen mit den Schatten. Die Sache war erledigt. Ich ging zum Fenster, schaute in die Dunkelheit hinaus und drückte das kühle Metall der Waffe auf meine pochenden Blutergüsse. Komisch, dachte ich, dass Klatschers Fäuste irgendwie gar nicht richtig weh getan hatten.
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